Legasthenie-Training

In meiner Praxis kommt es oft vor, dass bei einem Kind der Verdacht auf Legasthenie bei den Eltern oder Lehrern besteht.
Ein Elterngespräch bildet dann den Anfang. Hierbei wird die bisherige Entwicklung des Kindes beleuchtet und mit aktuellen Eindrücken von selbstgeschriebenen Texten aus der Schule ergänzt.
Termine mit dem Kind folgen: es werden die verschiedenen Bereiche der Entwicklung angesehen. Schwerpunkt bilden die Wahrnehmungsbereiche, da werden die einzelnen Teilbereiche angesehen.
Ein Gespräch bildet den Abschluss dieser Abklärungsphase.
Ziel ist es genau herauszufinden, wo das Kind im jeweiligen Bereich steht, dann kann das Legasthenie-Training beginnen.

Was ist Legasthenie?

Legasthenie ist eine Schwäche beim Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechtschreibens bei normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz.

Das Phänomen Legasthenie ist seit etwa 140 Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Seit den 1870er Jahren beschäftigen sich Mediziner, Psychologen und später auch Pädagogen jeweils eigenständig mit Legasthenie. Daraus resultiert auch, dass es keine einheitliche Definition sowie Terminologie gibt.
Zu Anfang waren es Ärzte, die sich der Legasthenie beschreibend annäherten. Der französische Chirurg und Anthropologe Paul BROCA beschäftigte sich in einer Untersuchung 1861 mit dem Sprachverlust eines erwachsenen Mannes bedingt durch einen Unfall („Fall des Monsieur Tan“).

Seit etwa 1990 wird Legasthenie als anlage- oder entwicklungsbedingte Teilleistungsstörung des Gehirns verstanden.
Der amerikanische Hirnforscher Albert M. GALABURDA stellte fest, dass bei Legasthenikern definitiv in der linken Gehirn-Hemisphäre eine Minderentwicklung nachgewiesen werden kann. Die erbliche Weitergabe dieser Anlage erfolgt über mindestens zwei Chromosomen (6. und 15.).

Ergebnis der jahrzehntelangen Forschungsarbeiten rund um die Welt ist wohl die multikausale Problematik der Legasthenie, die einer komplett individuellen Diagnostik und einer ebenso individuellen Förderung bedarf.
Jedes Kind und jede Legasthenie ist verschieden!

Die WHO hat Legasthenie in das internationale Klassifikationsschema für psychische Störungen (ICD-10) als Entwicklungsstörung anerkannt.
Ob diese Eintragung nur positiv zu bewerten ist, wird unter Pädagogen immer wieder in Frage gestellt. Die Gruppe der Ärzte hat damit jedenfalls Zugang zu den Betroffenen. Definitiv nicht sinnvoll wäre die ärztliche Behandlung einer primären Legasthenie, die, wie schon beschrieben, individuell pädagogisch begleitbar ist.

Statistisch gesehen leiden etwa 15% der Weltbevölkerung an verbaler Legasthenie, einer schwachen Ausprägung, die auch gut therapierbar ist.

Ein legasthener Mensch bleibt sein Leben lang legasthen, doch kann er gut damit leben lernen. Die Problematik kann durch längere Begleitung gut in den Griff gebracht werden und schwächt sich später oft ab. Das Kind lernt Strategien zu entwickeln, die ihm helfen damit umzugehen.

Von wissenschaftlicher Seite sollte in der Gesellschaft noch mehr darauf hingewiesen werden, dass legasthene Menschen nicht nur normal-begabt bis überdurchschnittlich begabt sind, sondern auch in kreativen und technischen Bereichen außerordentliches Talent besitzen.
Diese meist in einem Gebiet hochbegabten Menschen werden oft Erfinder, Wissenschaftler, die in der Forschung Großartiges leisten oder sehr kreative Künstler.

Welche Anzeichen lassen schon im Vorschulalter eine Legasthenie vermuten?

Es gibt eine Vielzahl an Anzeichen, die schon vor dem Schulalter, also im Vorschulalter, auf eine Legasthenie hindeuten:

  • Fälle von Legasthenie in der Familie, aktuell und in früheren Generationen
  • Das Kind krabbelte nicht oder nur wenig ausgiebig (keine oder verkürzte Krabbelphase)
  • Im Kleinkindalter erfolgte das Sprechen lernen später als üblich, es wird undeutlich gesprochen, Phrasen werden vermischt bzw. verwechselt
  • Lispeln
  • Das Kind denkt schneller als es handelt
  • Verwendung von ähnlichen Wörtern und Ersatzwörtern
  • Verwendung von falschen Bezeichnungen (z.B. Lampenschirm für Laternenpfahl)
  • Die Bezeichnungen für bekannte Objekte werden ständig vertauscht (z.B. Farben)
  • Kind neigt zu Worterfindungen (z.B. Wasseral statt Mineralwasser)
  • Richtungsweisende Wörter werden durcheinander gebracht (z.B. hinauf/hinunter, innen/außen, drinnen/draußen)
  • Übertriebenes Stolpern, Anstoßen und Fallen über kleine Gegenstände
  • Das Kind hat gute und schlechte Tage ohne ersichtlichen Grund
  • Probleme beim Erlernen von Kinderliedern
  • Probleme beim Reimen von Wörtern (Haus-Maus, Baum-Traum)
  • Probleme beim Herausfinden eines nicht passenden Wortes (z.B. Haus, Maus, Laus, Katze)
  • Probleme bei Reihungen (Abläufe) – z.B. farbige Perlen reihen
  • Das Kind genießt es, wenn ihm vorgelesen wird, zeigt aber kein Interesse am Erlernen von Buchstaben und Wörtern
  • Das Kind hat Schwierigkeiten beim Sport (Radfahren, Schwimmen) oder beim Klettern, Purzelbäume schlagen oder Schnurspringen
  • Das Kind hat Schwierigkeiten beim selbständigen An- und Ausziehen
  • Das Kind ist ungeschickt mit Messer, Gabel, Schere und beim Schuhe binden
  • Das Kind ist manchmal überhastet, manchmal extrem langsam
  • Erhöhte Kreativität (zeichnet und malt viel und gut)
  • Gute Auffassungsgabe für konstruktives und technisches Spielzeug und Alltagsgegenstände in diesem Bereich (Puzzles, Lego-Steine, Computer-Tastatur, Fernbedienungen, Telefon)
  • Das Kind scheint ungewöhnlich intelligent zu sein!

Diese Anzeichen können isoliert eine völlig andere Bedeutung haben. Wenn aber mehrere Beispiele über einen längeren Zeitraum übereinstimmen und ihr Kind im Vorschulalter ist, könnte es sinnvoll sein den Wahrnehmungsbereich überprüfen zu lassen. So wissen Sie in welchem Bereich Ihr Kind Nachreifungsbedarf hat und können es gut begleiten!

Warum kann man eine Legasthenie bei einem Vorschulkind nicht gesichert feststellen?

Im Vorschulalter ist es nicht möglich eine Legasthenie wirklich zu diagnostizieren, da der Beurteilungsbereich der Symptomatik noch nicht vorhanden ist. Erst mit dem Eintritt in die Schule und der Auseinandersetzung mit dem Lese- und Schreibprozess, werden deutliche Anzeichen sichtbar.
Durch Beobachtung und einfache Testverfahren ist es jedoch möglich, vorhandene Bereiche, die noch nicht so gut entwickelt sind in den Wahrnehmungsbereichen festzustellen und gezielt zu fördern.
Die Teilleistungen, auch Funktionen genannt, bilden die Basis für kognitive Prozesse in der Schule. Daher ist es sehr wichtig diese rechtzeitig zu fördern, um eventuell so größeren Problemen nach dem Schuleintritt vorzubeugen.

Welche Anzeichen lassen bei einem Schulkind eine Legasthenie vermuten?

Bei einem Schulkind lassen sich deutliche Anzeichen feststellen, die in Richtung Legasthenie zu verstehen sind:

Bei Kindern im Schulalter bis etwa 9 Jahre

  • große Schwierigkeiten beim Lernen des Lesens und Schreibens
  • ständiges Verstauschen von Buchstaben und/oder Zahlen (z.B. „b“ für „d“, 68 für 86)
  • beim Schreiben von ö-ä-ü werden Striche und bei i Punkte weggelassen
  • Probleme einzelne Laute in einem Wort zu hören
  • Das Kind verwechselt ähnlich aussehende Worte beim Schreiben und Lesen.
  • Das Kind lässt beim Schreiben Buchstaben aus oder fügt welche hinzu.
  • Es kommt beim Schreiben am Ende der Zeile oft zu einem zusammengehängten Schreiben
  • Probleme beim Unterscheiden harter und weicher Mitlaute (P-B, T-D, K-G)
  • Probleme beim Unterscheiden von rechts und links
  • Schwierigkeiten beim Merken des Alphabets
  • Schwierigkeiten beim Erinnern von Reihenfolgen (z.B. Tage der Woche, Monate des Jahres, Jahreszeiten)
  • Schwierigkeiten beim Binden von Schuhbändern
  • Schwierigkeiten beim Ball fangen, Seilspringen, usw.
  • Unaufmerksamkeit, Kind lässt sich leicht ablenken, wirkt verträumt, erzählt von Dingen, die überhaupt nicht dazugehören
  • Auffällig verkrampfte Körperhaltung
  • Frustration, die zu Verhaltensproblemen führen kann
  • Verschwimmen der Buchstaben
  • Schlechte Orientierung in der Schule und am Schulweg
  • Chaos bei den eigenen Schulsachen, im Kinderzimmer

 

Bei Kindern ab 9 bis etwa 12 Jahren

  • Fehler beim Lesen, Fehlen des Leseverständnis
  • Sonderbare Aussprache, Buchstaben werden ausgelassen oder in einer falschen Reihenfolge ausgesprochen
  • Für schriftliche Arbeiten wird überdurchschnittlich lange Zeit benötigt
  • Probleme beim genauen Abschreiben von der Tafel und dem Lehrbuch
  • Probleme beim genauen Aufschreiben von mündlichen Anweisungen
  • Völlige Unorganisation zu Hause und in der Schule – „Chaos“
  • Wachsender Mangel an Selbstvertrauen
  • Wachsende Frustration, die dann in einem veränderten Verhalten resultiert (z.B. aggressiv, laut, auffällig)

 

Bei Schülern mit 12 Jahren und älter

  • Neigung falsch (ungenau) oder zusammenhängend zu lesen
  • Inkonsequentes Buchstabieren
  • Probleme beim Planen und Schreiben von freien Aufsätzen
  • Neigung mündliche Anweisungen und Telefonnummern durcheinander zu bringen
  • Ernsthafte Probleme beim Erlernen von Fremdsprachen
  • Geringes Selbstvertrauen
  • Wenn einige der genannten Punkte bei Ihrem Kind zutreffen, ist es ratsam Hilfe von Außen in Anspruch zu nehmen!

 

Worin besteht der Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Rechtschreibfehlern?

Für das Verständnis von Legasthenie ist es entscheidend Rechtschreibfehler von Wahrnehmungsfehlern zu unterscheiden, die für Legasthenie typisch sind.
Wahrnehmungsfehler kommen, durch die im Moment des Schreibens oder des Lesens abweichende Wahrnehmung und das damit verbundene Aufmerksamkeitsdefizit zustande. Oftmals ist das Denken und Handeln nicht im Einklang.

Rechtschreibfehler sind dagegen Fehler, die hauptsächlich durch die Unkenntnis des Wortes und mangelndes Regelwissen zustande kommen.
Bei Rechtschreibfehlern reicht gutes Rechtschreibtraining aus, um sehr gute Erfolge erzielen zu können. Bei den Wahrnehmungsfehlern hilft Rechtschreibtraining alleine nicht.

Was kann geschehen, wenn es keine Hilfe für das Kind gibt?

Wird Legasthenie durch verschiedene Ereignisse verstärkt, die sich im Kind, um das Kind oder in der Schule ereignen, so spricht man von einer Sekundärlegasthenie.

Die Ursachen können sehr vielfältig sein. Psychische Probleme (wie ständige Überforderung, Frustration), physische Ursachen (wie Sehschwäche, Schwerhörigkeit, Sprachauffälligkeiten), familiäre Probleme (wie Scheidung, Geschwisterrivalität oder ein Todesfall), aber auch nicht geeignete Unterrichtsmethoden, Lerndefizite und Minderbegabung können zu einer Sekundärlegasthenie führen.
Bei einigen betroffenen Kindern kommt es aufgrund der vielen Frustrationen und Enttäuschungen (ausbleibender Leistungserfolg, unterdrückte Bewegungsfreiheit) bei einer nicht erkannten und nicht behandelten Legasthenie oft zu Reaktionen wie Aggressivität und ähnlichen Verhaltensweisen wie bei hyperaktiven Kindern.
Diese Kinder lassen auf diese Weise all ihren Ärger, all ihre Wut heraus um so ein Ventil zu dem aufgestauten psychischen Stress zu haben.
Andere legasthene Kinder sind so schwer gefordert ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, dass sie bei all dem Druck, der da entsteht plötzlich Bewegung brauchen. Energie der enormen Leistung sich zu konzentrieren wird in Bewegung umgesetzt.

Je länger ein legasthenes Kind ohne pädagogische (bei Bedarf auch psychologische) Unterstützung bleibt, desto größer ist die Gefahr, dass Abwehrmechanismen entstehen, die nicht nur die Lernvorgänge, sondern auch die Gesamtpersönlichkeit des Kindes beeinflussen.

(vgl. Literatur zum Thema Legasthenie unter anderem von der KLL mehr dazu unter: kll.legasthenie.com)

Elternleseideen finden Sie unter Lese-Tipps!